21.4.12
  Leserbrief zum Artikel UnFaire Bügerwissenschaften von Ruth Karl.

Bürgerwissenschaften unfair?

Irmgard Greilhuber, Philipp Hummer

Bezugnehmend auf den Artikel von Frau Ruth Karl im Tintling 122 möchte ich/wir einige Fakten zu Citizen Science Projekten (CSP) aufzeigen, um Missverständnissen vorzubeugen und um offensichtliche Falschaussagen zu korrigieren.
Gleich zu Beginn eine Begriffsklärung: Mykologie ist wesentlich mehr als die Erfahrungswelt des Pilzesammelns und -kartierens, der heilenden, spirituellen oder handwerklichen Verwendung. Mykologie (altgriechisch μύκης mýkēs ‚Pilz‘ und -logie) ist, wie auch z.B. in Wikipedia nachzulesen, die Wissenschaft von den Pilzen, das heißt sie umfasst Systematik, Ökologie (Erforschung der ökologischen Rollen und Einnischungen von Pilzen, z.B. Parasiten, Zersetzer und Mykorrhizapilze), tier- und humanmedizinische Mykologie, biochemische sowie technische Mykologie von Backerzeugnissen, über Alkoholische Gärung, Milch- und Fleischerzeugnisse, Mykoproteinen bis zu Reinstoffgewinnung (z.B. Citronensäure), und vieles mehr.
An dieser Stelle möchte ich auch an allgemeingültige grundlegende Werte der Wissenschaft erinnern (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaft#Werte_der_Wissenschaft):
•    Transparenz: Beschreibung, wie Zusammenhänge und Fakten ermittelt wurden.
•    Objektivität: ausschließlich reale Fakten und objektive Schlüsse.
•    Überprüfbarkeit: Die Fakten und Zusammenhänge können von jedermann zu jeder Zeit überprüft werden (Validierung, Verifizierung bzw. Falsifizierung). Sicherung des Wahrheitsgehalts der wissenschaftlichen Arbeiten.
•    Verlässlichkeit: Stabilität über einen langen Zeitraum.
•    Offenheit und Redlichkeit: alle Aspekte eines Themas werden neutral und ehrlich betrachtet.
•    Neuigkeit: Die Arbeit führt zu einem Fortschritt in der Erkenntnis.
Nun Zu These 1: „Citizen Science als Grundlage für automatisierte Wissensproduktion.“
Hier wird Citizen Science mit dem Directorate-General für Research and Innovation der Europäischen Kommission (http://publications.europa.eu/resource/cellar/3213b335-1cbc-11e6-ba9a-01aa75ed71a1.0001.02/DOC_2) in Verbindung gebracht. Dieses Directorate General richtet sich in erster Linie an Forschungsabteilungen großer und kleiner Unternehmen (z.B. Pharmazeutische Betriebe), Akademien und Universitäten. Es befürwortet Open Innovation, Open Science und eine Open World. Innerhalb der European Open Science Cloud und damit auch im Directorate-General ist CS ein kleiner Anteil. Mit „Forschung standardisieren“ ist z.B. die länderübergreifende Vereinheitlichung von Probennahme, Probenbeurteilung und –auswertung gemeint, also eine Best Practice im Sinne der obigen allgemeingültigen wissenschaftlichen Werte, jedoch nicht die Vereinnahmung von Citizen Science Feldforschung für kommerzielle Zwecke.

Der Begriff Open Science ist seit kurzem weit verbreitet, die Umsetzung ist jedoch in vielen Bereichen erst in Entwicklung. Open Science ermöglicht die bessere Verwirklichung grundlegender Werte der Forschung, nämlich Reproduktion von Forschungsergebnissen sowie Transparenz bei der Forschungsmethodik. Gleichzeitig erhöht sie die gesellschaftliche Bedeutung der Forschung, vor allem auch durch partizipative Forschung, wie eben Citizen Science und fördert die Effizienz Open Science fördert auch die Mitarbeit nicht-institutioneller Teilnehmer, d.h. der Öffentlichkeit, in den wissenschaftlichen Prozess. Citizen Science ist "wissenschaftliche Arbeit, die von der Bevölkerung durchgeführt wird, oft in Zusammenarbeit oder unter der Leitung von Wiissenschaftlern und wissenschaftlichen Institutionen" (https://www.ffg.at/Europa/OpenScience).
Citizen Science entwickelt sich momentan sehr schnell, und der Beitrag, den sie bereits leistet, wird vielleicht noch nicht richtig gewichtet. Was unter Citizen Science tatsächlich zu verstehen ist, kann man z.B. auf https://www.citizen-science.at/allgemeines/was-ist-citizen-science nachlesen. Nach dem White Paper on Citizen Science in Europe (https://www.citizen-science.at/images/White_Paper-Final-Print.pdf) z.B. kann man mehrere gleichberechtigte Formen der Beteiligung von Laien in wissenschaftlichen Projekten unterscheiden: Im Bereich Collective Intelligence geht es vor allem um Mustererkennung, z. B. Projekt Zooniverse. Beim Pooling of Resources geht es vor allem darum, dass interessierte Personen Ressourcen, wie ungenutzte Rechenleistung ihrer Smartphones oder Computer zur Verfügung stellen, etwa seti@home. In Data Collection-Projekten sammeln Laien Daten und stellen diese in unterschiedlicher Form den ProjektleiterInnen zur Verfügung, siehe das Projekt StadtWildTiere. Bei der Analysis Task sind Laien vor allem auch in der Auswertung der Daten beteiligt, z.B. C.S.I. Pollen. Im Bereich Serious Games, auch Gamification genannt, gab es in den letzten Jahren eine große Entwicklung, dabei tragen die Teilnehmenden durch aktives Spielen (Lösen kniffliger Probleme oder Erkennen von Mustern) zu den wissenschaftlichen Projekten bei, so imProjekt Picture Pile. Bei den Participatory Experiments sind die Teilnehmenden bereits in der Entwicklung der Fragestellung und in weiteren Projektphasen eingebunden, z.B. Projekt Reden Sie mit. Grassroots Activities sind vor allem in der Do It Yourself Bewegung zu finden. Sie können gänzlich von Laien durchgeführt werden.
Warum Citizen Science heute boomt ergibt sich aus Folgendem: „Erst durch die Kombination aus Citizen Science, dem Web 2.0 und der Open Access Bewegung ist es viel mehr Menschen möglich, an Wissenschaft teilzunehmen, als den wenigen äußerst Privilegierten zu Darwins Zeit; sie sammeln, analysieren selbstständig und publizieren. Citizen Science ist als Fortschritt in der Demokratisierung der Wissenschaft zu bezeichnen und nicht als Anknüpfung an die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts.“ (https://www.citizen-science.at/allgemeines/was-ist-citizen-science)
Auf der einen Seite verbessern Citizen Scientists die Qualität der Daten und die wissenschaftlichen Erkenntnisse, viele Projekte könnten ohne Citizen Scientists nicht in sinnvollem Umfang durchgeführt werden, und sie können oft Perspektiven, Erfahrungen oder Informationen liefern, die professionelle Wissenschaftler nicht haben.
Andererseits haben Citizen Scientists oft ein direktes Interesse daran, sei es an der schnelleren Entwicklung von Medikamenten oder an einem besseren Einblick in die Qualität der Mitwelt, in der sie leben. Citizen Scientists arbeiten weltweit zusammen, um gesellschaftliche Herausforderungen wie Klimawandel oder Ernährungssicherheit anzugehen. Citizen Science kann zum Ziel der Europäischen Kommission, verantwortungsvolle Forschung und Innovation zu fördern, beitragen, da sie das öffentliche Engagement stärkt und die Forschungsagenden auf Themen ausrichtet, die für die Bevölkerung von Belang sind (http://publications.europa.eu/resource/cellar/3213b335-1cbc-11e6-ba9a-01aa75ed71a1.0001.02/DOC_2).
Viel zu wenige CS-Projekte sind öffentlich gefördert, der im Artikel angesprochene Pilzfinder der Österreichischen Mykologischen Gesellschaft hat keinen Cent öffentliche Förderung. Kommerzieller Schaden kann nur entstehen, wenn man finanziellen Nutzen von den Daten hätte. Die Daten werden in keiner Hinsicht kommerziell verwendet, jedoch werden durch Open Science den Citizen Scientists selbst Daten zur Verfügung gestellt, was sonst unmöglich wäre.
Um auf der Plattform Österreich forscht gelistet zu werden, muss das jeweilige Projekt den Katalog der Qualitätskriterien für Citizen Science Projekte (https://osf.io/89cqj/) erfüllen. Ein wichtiges Kriterium ist dabei, dass ein Mehrwert für alle Beteiligten (Citizen Scientists wie auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler) im Projekt entstehen muss.
Auch die ECSA Zehn Prinzipien von Citizen Science (https://ecsa.citizen-science.net/sites/default/files/ecsa_ten_principles_of_cs_german.pdf) sind hier zu zitieren und viele andere Studien, wo es unter anderem um Empowerment geht. Die Vielfalt an Institutionen im CS Network Austria allein zeigt, dass es nicht um eine kommerzielle Verwertung der Daten oder um ein verstecktes Trainieren von Algorithmen geht.
Die Citizen Science Plattform SPOTTERON, auf der das Pilzfinder Projekt läuft, hält sich strikt an die Bestimmungen der DSGVO und wendet hohe Standards zum Schutz von registrierten UserInnen an. Projekte, die eingegebene Daten für das Trainieren von Erkennungssystemen verwenden, unterstützen damit nur die Artbestimmung, was aufgrund der verbesserten Klassifikation zu einem erheblichen Mehrwert für die Citizen Scientists und für das Forschungsprojekt führt. Dass mit “den online verfügbaren riesigen Mengen an Quellcodes (Open Source sei Dank) Maschinen trainiert werden” ist darüber hinaus eine irreführende Aussage und zeugt von technischem Unverständnis.
Die Aufnahme eines CS Projektes ins Citizen Science Netzwerk „Österreich forscht“ führt verstärkt zur Gemeinschaftsbildung und Gesellschaftsrelevanz aufgrund der verstärkten auch fachübergreifenden Vernetzung der Projektverantwortlichen und Projektteilnehmenden.
Citizen Science-Projekte mit Community-Funktionen, also mit der zeitnahen Rückmeldung und einer direkten Kommunikation innerhalb der TeilnehmerInnen ermöglichen nicht die Perpetuierung von Vor- und Fehlurteilen, sondern verhindern diese durch das unmittelbare Feedback wesentlich früher und nachhaltiger, als das in Vor-Internet-Zeiten möglich war, wo sich Fehlbestimmungen sogar oft über ein ganzes Leben hingezogen haben (Bestimmungen „sensu XY“). Es ist die moderne Amateurforschung wesentlich transparenter und demokratischer geworden!

Eine Veröffentlichung der Daten entfällt, wenn ethische oder moralische Gründe dagegensprechen, d.h. im Falle von naturschutzfachlich sensiblen Arten unterbleibt die Verortung. Betreffs personenbezogener Daten kann gemäß der DSGVO jederzeit eine Löschung durchgeführt werden, die beim Pilzfinder sogar direkt von jeder/m Teilnehmenden im Projekt selbst durchgeführt werden kann.
Zu Thesen 2 und 3: ...ökonomisch motiviertes Datensammlungsprojekt“..Automatisierung von Wissensproduktion. Gerne würde ich konkrete Hinweise sehen, wo diese pauschalierte Absicht zu lesen wäre.

Zu These 4: ...nur noch wenige Menschen werden diese Erkenntnisse verstehen...
Durch die vielen CS-Projekte passiert genau das Gegenteil. Wesentlich mehr Menschen als früher können im konkreten Fall Pilze bestimmen lernen, sich dem Mikroskopieren zuwenden, sich Zeit nehmen und damit Pilze kennen und Erkenntnisse gewinnen! Auch im Pilzfinder sind diese Effekte bemerkbar. Einsteiger_innen werden von der Community unterstützt und erweitern laufend ihr Wissen über Pilze und deren Bestimmung.

Zu These 5: ...Angriff auf Transparenz und Demokratisierung der Wissenschaften...
Noch nie war Wissenschaft so transparent und demokratisch wie heute! Zunehmend verlässt die Wissenschaft den berühmten Elfenbeinturm, informiert die Bevölkerung und versucht diese in Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen.

Zu These 6: ...im Bereich der Wissenschaften bedrohen Monokultur und ...Reduzierung die Artenvielfalt...
Selbstverständlich macht die allgemeine Verminderung der Lebensraumqualität und -quantität auch vor der Wissenschaft nicht halt. Biodiversität ist heute wie hinlänglich bekannt, durch menschliche Aktivität, so bedroht wie noch nie, siehe auch https://www.biodiversityaustria.at/. Das ist jedoch ein allgemeines Phänomen, das alle Bereiche des Lebens betrifft, nicht allein Wissenschaft und Citizen Science.
Um dem Artensterben, das fast jeden Aspekt des öffentlichen und privaten Lebens beeinflussen wird, die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen, gibt es fast keine bessere Maßnahme als es unübersehbar und für alle sichtbar zu machen, was nur mit Daten und Monitoring möglich ist. Datensammeln ist keineswegs neu, spätestens seit Linnée werden in der Wissenschaft genau solche Daten gesammelt.

Zu These 7: ....Erfahrungswelten des Miteinanders....
Diese These trifft völlig zu.
Abschließend ist zu bemerken, dass bei weitem der Mehrwert für die Bevölkerung überwiegt, nie zuvor hatte diese in einem derart großen Ausmaß die Möglichkeit sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu beteiligen, in diesem hohen Ausmaß zur Erforschung und damit letztlich zum Schutz der Biodiversität beizutragen. Nur was man kennt, kann man schützen!
Darum mitmachen und hier die Pilzfunde dokumentieren: www.pilzfinder.at


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