Der Salzpalast

Der Salzpalast

Auf dem Gipfel eines sanften Hügels thront malerisch und majestätisch eine Burg mit vielen Türmchen und Zinnen.
Miriam verabredet sich mit ca. einem Dutzend Leuten, um da rauf zu spazieren und die Burg zu besuchen.
Sie müssen dazu den Hügel besteigen und das entpuppt sich überraschenderweise als ziemlich schwierig und mühsam.
Von unten sah es hingegen ganz einfach aus und es war auch ein bequem erscheinender Stufenweg zu erkennen.
Auf noch nicht einmal halben Weg biegen die Kollegen nach links ab, weil es ihnen zu mühsam und nicht lohnend erscheint.
„So ein altes, kaltes Gemäuer“, sagt einer, "was sollen wir da überhaupt?"
Ein anderer: „Ja, der Palast ist doch von unten viel schöner und wir haben genug gesehen. Wir machen was anderes, wollt ihr nicht mitgehen?“
Miriams älterster Sohn Lukas und sie selber sind schließlich noch allein. Lukas atmet schwer auf dem anstrengenden Weg nach oben.
Auch für Miriam ist der Weg beschwerlich und sie müssen gelegentlich rasten, um zu verschnaufen. Endlich sind sie oben.
In gläsernen, offenbar nachträglich angebauten Eingangsbereichen warten eine Menge fremder Menschen,
die aus nicht bekannten Gründen nicht in den Palast selber hineingehen.
Miriam und Lukas jedoch gehen ohne Umwege durch eine schmale Tür unmittelbar an der Treppe direkt ins Gebäude hinaun.
Es gibt im Inneren des Palastes zahlreiche Treppen, Türen und Nischen.

Kaum am Fuß der ersten Treppe angekommen packt Miriam unmittelbar eine panische Angst.
Der Grund: keine der extrem schmalen Stiegen hat ein Geländer.
Vielmehr sind die Begrenzungen der Stiegen mächtige Ströme glutflüssiger Lava.
Lukas ermuntert Miriam, mit ihm nach oben zu gehen.
Er geht vor, weil zwei Menschen nebeneinander keinen Platz auf der schmalen Treppe hätten.
Während er völlig unbefangen nach oben steigt, kriecht Miriam auf allen Vieren,
weil sie befürchtet, von den geländerlosen Treppen in die Tiefe zu stürzen. Nie im Leben hatte sie eine solche Angst verspürt.
Auf halber Höhe scheint es eine Möglichkeit der Rast zu geben.
Hier gibt es nämlich einen kleinen Korridor, der etwas Sicherheit zu versprechen scheint.
In diesem Korridor sind drei Türen. Sie sind aus dickem, schwerem Eichenholz mit gigantischen Schlössern und Riegeln.
Zu Miriams Überraschung lassen sie sich aber alle ganz leicht und völlig geräuschlos öffnen.
Dahinter ist jedoch nichts zu erkennen. An der Wand des Korridors hängt der Zipfel eines Papierstückes lose herunter.
Miriam zieht vorsichtig daran und stellt fest, daß es sich um eine Tapete handelt.
Schlagartig wird ihr bewusst, dass der ganze Palast innen mit einer geschmacklosen, hellblau großgemusterten Tapete beklebt ist.
Sie läßt sich leicht ablösen und die ganze Pracht des ursprünglichen Gemäuers kommt zum Vorschein.
Dieser Palast ist nämlich komplett aus gediegenem Salz gebaut! Wie kann man ein Gebäude nur so verschandeln, denkt sich Miriam und reißt in diesem Korridor die ganzen häßlichen Tapeten von der Wand. Wie wunderschön ist das Räumchen mit den schweren Türen jetzt anzusehen.
Dort, wo Sonnenstrahlen durch ein Fenster fallen, glitzern die prächtigen Wände märchenhaft.
Miriam geht zurück zur Treppe, um den Aufstieg fortzusetzen. Lukas ist inzwischen nicht mehr zu sehen.
Miriam kriecht vorsichtig und ängstlich auf allen Vieren das letzte Stück der Treppe nach oben und kommt in einen riesigen Saal.
Darin sitzen eine Menge Leute und amüsieren sich beim Kartenspiel, Lukas mittendrin.
Auch er mischt vergnügt mit und bedeutet seiner Mutter, daß sie sich doch dazu gesellen und mitspielen soll.

Doch Miriam kann dem ganzen Treiben überhaupt nichts abgewinnen, denn etwas macht ihr erneut eine höllische Angst:
Unmittelbar rechts neben der Eingangstür zum Saal fällt der Boden senkrecht über mehrere Stockwerke nach unten in die Tiefe ab.
 Kein Geländer ist da, das einen Sturz und damit den sicheren Tod verhindern könnte. Unten fließt ein Strom aus dicker, glühender Lava.
Im nächsten unachtsamen Moment schon könnte Miriam da unten verglühen.
Miriam hält es dort oben nicht eine einzige Minute aus, kriecht wieder aus dem Raum und steigt sofort wieder rückwärts auf allen Vieren
die Treppen hinab, am Erdgeschoß vorbei, bis hinunter in den Keller.
Dort trifft sie ihren jüngeren Sohn Johannes, der sich ein ganzes Glas Honig über dem eigenen Kopf ausgegossen hat und damit wild herumkleckert.

Da unten gibt es eine Art Apotheke, in der man allerlei Heilmittel kaufen kann.
Der Kauf ist sozusagen eine moralische Verpflichtung an Stelle eines Eintrittsgeldes.
Miriam kauft für 10.- Mark eine Tüte getrockneter Kräuter und gibt sie draußen im Eingangsbereich einem wartenden Mann,
der aber aus ihr nicht bekannten Gründen nicht in den Palast selber hineingeht.
Die frisch erworbene Kräutermedizin scheint ihm gegen seine Krankheit zu helfen. Jedenfalls ist er Miriam außerordentlich dankbar.



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